„Wie macht Ihr das bloß!?“ Herzlich willkommen zum letzten Beitrag der kleinen Mini-Reihe zum Thema Alltag. Letzte Woche ging es um Ressourcen aus der Gesellschaft, dieser Beitrag wird sich den individuellen Ressourcen widmen, die ich über die Jahre entwickelt bzw. aktiviert habe und mit denen wir gut durch den Tag kommen.
Viel Erleichterung schafft ein strukturierter Alltag. Ja, dass ich so etwas mal schreiben würde, hätte ich vor 13 Jahren auch noch nicht geglaubt. Wer mich von ganz, ganz früher kennt weiß, dass ich das mit dem Organisieren erst mal lernen musste. Vor Judiths Geburt hatte ich noch nicht mal einen Kalender und kam damit gut durchs Leben. Ich hab ziemlich verpeilt in den Tag gelebt. Heute ist das unvorstellbar. Um all die Termine zu koordinieren (inkl. Wer übernimmt den ausgefallenen Nachtdienst weil er am nächsten Tag ausschlafen kann?) haben wir als Familie einen gemeinsamen digitalen Kalender. Jedes unserer digitalen Endgeräte kann darauf zugreifen. Auch der Pflegedienst kann auf alle Termine die Judith betreffen zugreifen.
Termine versuchen wir zu bündeln. So werden z.B. Facharzttermine kombiniert: erst in die Neuropädiatrie, danach in die Orthopädie und dann noch n Herzultraschall hinterher. Solche Tage sind mega-anstrengend, aber dann ist es halt einmal anstrengend und nicht mehrmals hintereinander. Gut ist daher, an ein Zentrum angebunden zu sein, in dem es eine umfassende Versorgung gibt. In unserem Fall ist es die Uniklinik. Ich kenne Eltern, deren Kind „nur“ ein einzelnes Spezialbedürfnis hat, die nehmen hierfür auch weitere Strecken auf sich. Das geht in Judiths komplexen Leben leider so nicht, mit einer Versorgung in der Heimatstadt überwiegen in unserem Fall aber auch eindeutig die Vorteile der kurzen Wege und der zentralen Anlaufstelle.
Letzte Woche erzählte ich bereits, dass wir Versorgungen z.B. durch den Homecare-Provider und die Apotheke aus einer Hand haben. Das hat praktische Vorteile. Auch in Bezug auf Reha- und Orthopädietechnik gibt es ein Sanitätshaus, das alle Bereiche abdeckt. So nutze ich die Zeit, in der am Stehtrainer geschraubt wird, um mit dem Techniker schon mal über die Ausstattung des neuen Rollstuhls zu sprechen (es hat sich für uns als sehr praktisch erwiesen, dass das Sanitätshaus und die Beatmungsfirma direkt in unserer Stadt sind).
Um all diese Ansprechpartner zu finden, ist Vernetzung hilfreich. Innerhalb unserer Stadt kennen wir mehrere Eltern, die ein Kind mit ähnlichen Bedürfnissen haben. Es besteht ein Austausch über hilfreiche Ansprechpartner und Anlaufstellen. Die Kontakte hat damals die Frühförderstelle vermittelt. Aber auch bei Schulveranstaltungen, Arztterminen oder Krankenhausaufenthalten hat der eine oder andere Smalltalk schon wertvolle Informationen gebracht. Das Internet bietet eine Fülle an Informationen, auch kann es sinnvoll sein, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen. Inwieweit man sich in diese Dinge reingeben will, ist individuell. Es ist möglich, rein aus solidarischen Gründen einer Interessensgruppe beizutreten (z.B. Sichtbarkeit in der Gesellschaft, Interessensvertretung, …), man kann auf niedrigem Niveau an Veranstaltungen teilnehmen, sich am Austausch beteiligen und wer ganz ambitioniert ist, übernimmt ein aktives Amt in einer solchen Gruppe/Verein. Alles kann, nichts muss. Hilfreich ist es allemal.
Einige der Tipps, die ich über diese Wege bekam, sind im Alltag eine große Stütze. So haben wir über die Jahre viele Abläufe optimiert bzw. an unseren Bedarf angepasst. Im Zuge der ketogenen Diät hat es sich z.B. bewährt, die Mahlzeiten komplett vorzukochen und einzufrieren. Hier habe ich mit meiner Freundin eine Routine entwickelt, die vermutlich jeder Großküche Konkurrenz gemacht hätte ;-)).
Wir versuchen, mit möglichst wenig Aufwand durch den (Pflege-)Tag zu kommen. Anstatt nach dem Essen noch mal ins Bad zu rangieren, putzen wir die Zähne nach dem Essen gleich am Tisch. Um am Wochenende tagsüber nicht ne halbe Stunde mit Medikamente-stellen zu verbringen, bereitet uns diese der Nachtdienst vor. Auch der Pflegewagen wird durch den Nachtdienst aufgefüllt so dass sich die Pflegeperson tagsüber um so etwas nicht noch kümmern muss.
Das sind Kleinigkeiten, die doch sehr den Alltag erleichtern.
Auch durch Ausstattung/ entsprechende Umgebung kann man Lebens- und Pflegequalität steigern. So hat in Judiths Zimmer vom Pflege- über den Gerätewagen, dem Hocker bis hin zum Mülleimer alles Rollen drunter, so dass schnell mal Platz geschaffen werden kann.
Oder: Judith war vom Licht des Nachtdienstes gestört. Damit also der Pflegedienst sich Licht machen kann und Judith im Dunkeln schlafen kann und das alles in einem Zimmer geht ein lichtdichter Vorhang quer durchs Zimmer. Geht die Pflegekraft aus dem Zimmer, nimmt sie den Monitor vom Video-Babyphon mit und hat Judiths Werte auf dem Pulsoximeter trotzdem im Blick.
Um nicht jedes Mal ein neues Entschuldigungsschreiben zu verfassen wenn Judith in der Schule krankheitsbedingt gefehlt hat, habe ich hier ein vorbereitetes Schreiben, auf dem ich nur noch ankreuzen muss. Faulheit in Vollendung.
Ihr habt nun einige Einblicke bekommen darein, wie wir „das“ so machen. Was ebenfalls zur Lebensqualität beiträgt ist das Pflegen gemeinsamer Familienhobbies. Und damit schließt sich der Kreis zum ersten Beitrag. In erster Linie sind wir Familie, Judith ist eine junge Heranwachsende mit entsprechenden Bedürfnissen. Diesen kommen wir nach, indem wir gemeinsame Familienhobbies und -rituale pflegen: lange Fahrradtouren, Spaziergänge im Wald, im Garten unterm Baum liegen, Mittagsschlaf im großen Bett oder der chillige Videonachmittag.
Und damit beende ich diese Reihe. Gibt es Punkte aus Eurem Familienleben, die Ihr gerne teilen möchtet? Dann schreibt gerne einen Kommentar oder kommentiert auf Twitter.