Archiv für den Monat April 2021

„Wie macht Ihr das bloß!?“ individuelle Ressourcen

„Wie macht Ihr das bloß!?“ Herzlich willkommen zum letzten Beitrag der kleinen Mini-Reihe zum Thema Alltag. Letzte Woche ging es um Ressourcen aus der Gesellschaft, dieser Beitrag wird sich den individuellen Ressourcen widmen, die ich über die Jahre entwickelt bzw. aktiviert habe und mit denen wir gut durch den Tag kommen.

Viel Erleichterung schafft ein strukturierter Alltag. Ja, dass ich so etwas mal schreiben würde, hätte ich vor 13 Jahren auch noch nicht geglaubt. Wer mich von ganz, ganz früher kennt weiß, dass ich das mit dem Organisieren erst mal lernen musste. Vor Judiths Geburt hatte ich noch nicht mal einen Kalender und kam damit gut durchs Leben. Ich hab ziemlich verpeilt in den Tag gelebt. Heute ist das unvorstellbar. Um all die Termine zu koordinieren (inkl. Wer übernimmt den ausgefallenen Nachtdienst weil er am nächsten Tag ausschlafen kann?) haben wir als Familie einen gemeinsamen digitalen Kalender. Jedes unserer digitalen Endgeräte kann darauf zugreifen. Auch der Pflegedienst kann auf alle Termine die Judith betreffen zugreifen.
Termine versuchen wir zu bündeln. So werden z.B. Facharzttermine kombiniert: erst in die Neuropädiatrie, danach in die Orthopädie und dann noch n Herzultraschall hinterher. Solche Tage sind mega-anstrengend, aber dann ist es halt einmal anstrengend und nicht mehrmals hintereinander. Gut ist daher, an ein Zentrum angebunden zu sein, in dem es eine umfassende Versorgung gibt. In unserem Fall ist es die Uniklinik. Ich kenne Eltern, deren Kind „nur“ ein einzelnes Spezialbedürfnis hat, die nehmen hierfür auch weitere Strecken auf sich. Das geht in Judiths komplexen Leben leider so nicht, mit einer Versorgung in der Heimatstadt überwiegen in unserem Fall aber auch eindeutig die Vorteile der kurzen Wege und der zentralen Anlaufstelle.
Letzte Woche erzählte ich bereits, dass wir Versorgungen z.B. durch den Homecare-Provider und die Apotheke aus einer Hand haben. Das hat praktische Vorteile. Auch in Bezug auf Reha- und Orthopädietechnik gibt es ein Sanitätshaus, das alle Bereiche abdeckt. So nutze ich die Zeit, in der am Stehtrainer geschraubt wird, um mit dem Techniker schon mal über die Ausstattung des neuen Rollstuhls zu sprechen (es hat sich für uns als sehr praktisch erwiesen, dass das Sanitätshaus und die Beatmungsfirma direkt in unserer Stadt sind).

Um all diese Ansprechpartner zu finden, ist Vernetzung hilfreich. Innerhalb unserer Stadt kennen wir mehrere Eltern, die ein Kind mit ähnlichen Bedürfnissen haben. Es besteht ein Austausch über hilfreiche Ansprechpartner und Anlaufstellen. Die Kontakte hat damals die Frühförderstelle vermittelt. Aber auch bei Schulveranstaltungen, Arztterminen oder Krankenhausaufenthalten hat der eine oder andere Smalltalk schon wertvolle Informationen gebracht. Das Internet bietet eine Fülle an Informationen, auch kann es sinnvoll sein, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen. Inwieweit man sich in diese Dinge reingeben will, ist individuell. Es ist möglich, rein aus solidarischen Gründen einer Interessensgruppe beizutreten (z.B. Sichtbarkeit in der Gesellschaft, Interessensvertretung, …), man kann auf niedrigem Niveau an Veranstaltungen teilnehmen, sich am Austausch beteiligen und wer ganz ambitioniert ist, übernimmt ein aktives Amt in einer solchen Gruppe/Verein. Alles kann, nichts muss. Hilfreich ist es allemal.

Einige der Tipps, die ich über diese Wege bekam, sind im Alltag eine große Stütze. So haben wir über die Jahre viele Abläufe optimiert bzw. an unseren Bedarf angepasst. Im Zuge der ketogenen Diät hat es sich z.B. bewährt, die Mahlzeiten komplett vorzukochen und einzufrieren. Hier habe ich mit meiner Freundin eine Routine entwickelt, die vermutlich jeder Großküche Konkurrenz gemacht hätte ;-)).
Wir versuchen, mit möglichst wenig Aufwand durch den (Pflege-)Tag zu kommen. Anstatt nach dem Essen noch mal ins Bad zu rangieren, putzen wir die Zähne nach dem Essen gleich am Tisch. Um am Wochenende tagsüber nicht ne halbe Stunde mit Medikamente-stellen zu verbringen, bereitet uns diese der Nachtdienst vor. Auch der Pflegewagen wird durch den Nachtdienst aufgefüllt so dass sich die Pflegeperson tagsüber um so etwas nicht noch kümmern muss.
Das sind Kleinigkeiten, die doch sehr den Alltag erleichtern.

Auch durch Ausstattung/ entsprechende Umgebung kann man Lebens- und Pflegequalität steigern. So hat in Judiths Zimmer vom Pflege- über den Gerätewagen, dem Hocker bis hin zum Mülleimer alles Rollen drunter, so dass schnell mal Platz geschaffen werden kann.
Oder: Judith war vom Licht des Nachtdienstes gestört. Damit also der Pflegedienst sich Licht machen kann und Judith im Dunkeln schlafen kann und das alles in einem Zimmer geht ein lichtdichter Vorhang quer durchs Zimmer. Geht die Pflegekraft aus dem Zimmer, nimmt sie den Monitor vom Video-Babyphon mit und hat Judiths Werte auf dem Pulsoximeter trotzdem im Blick.  

Um nicht jedes Mal ein neues Entschuldigungsschreiben zu verfassen wenn Judith in der Schule krankheitsbedingt gefehlt hat, habe ich hier ein vorbereitetes Schreiben, auf dem ich nur noch ankreuzen muss. Faulheit in Vollendung.

Ihr habt nun einige Einblicke bekommen darein, wie wir „das“ so machen. Was ebenfalls zur Lebensqualität beiträgt ist das Pflegen gemeinsamer Familienhobbies. Und damit schließt sich der Kreis zum ersten Beitrag. In erster Linie sind wir Familie, Judith ist eine junge Heranwachsende mit entsprechenden Bedürfnissen. Diesen kommen wir nach, indem wir gemeinsame Familienhobbies und -rituale pflegen: lange Fahrradtouren, Spaziergänge im Wald, im Garten unterm Baum liegen, Mittagsschlaf im großen Bett oder der chillige Videonachmittag.

Und damit beende ich diese Reihe. Gibt es Punkte aus Eurem Familienleben, die Ihr gerne teilen möchtet? Dann schreibt gerne einen Kommentar oder kommentiert auf Twitter.

„Wie macht Ihr das bloß!?“ gesellschaftliche Ressourcen

„Wie macht Ihr das bloß!?“
Letzte Woche stellte ich in der kleinen Serie die Ressourcen aus dem persönlichen/ privaten Umfeld vor, diese Woche geht es um gesellschaftliche Ressourcen.

Auch hier ist der allererste Schritt sich zu überwinden und Angebote anzunehmen. Es gibt eine Vielzahl von Unterstützungsmöglichkeiten und Töpfen, diese alle zu nennen würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Jedoch möchte ich einen Einblick geben, wie es in unserem Beispiel aussehen kann. Unser Weg ist auch hier wieder zu schauen, was uns in unserer individuellen Situation unterstützen kann.

In den ersten Jahren hatte ich oft Skrupel: „Wie viel das schon wieder die Gesellschaft kostet… brauchen wir das wirklich?… Sind andere nicht viel bedürftiger als wir? … “. Jedoch sagte eine andere Mutter mal: „Diese Töpfe wurden nicht ohne Grund eingerichtet. Das Geld ist einzig allein dazu da, um genutzt zu werden.“ Es ist kein Almosen, sondern eine Leistung, die eingerichtet wurde, um sie abzurufen. Und wenn ein Pflegegrad festgestellt wurde, dann ist davon auszugehen, dass auch ein Bedarf für die sonstigen Leistungen besteht. Mit dieser Einstellung fiel es mir dann auch leichter mich auf diese Angebote einzulassen.

Wir rufen lange nicht alle Leistungen ab, die möglich wären. Wir schauen was wir brauchen und was uns hilft und das nutzen wir.

Das sind zunächst einmal die „Töpfe“ die für jedes Kind bereitgestellt werden und die auch Judith durchläuft: Betreuung durch eine Tagesmutter, später Kindergarten, jetzt Schule. Für mich sind das Zeiten, in denen mal keiner in der Wohnung ist, Zeiten, die ich mal zum Arbeiten, mal zur Hausarbeit oder auch zum Kraft tanken genutzt habe und aktuell auch nutze.
Für Judith ist es eine großartige Chance, außerhalb der eigenen vier Wände soziale Kontakte zu leben und sich persönlich weiter zu entwickeln.

Eine große Unterstützung im Alltag ist für uns alle der Pflegedienst, der aufgrund des Intensivpflegebedarfs über viele Stunden des Tages da ist und uns all das „medizinische“ abnimmt, so dass wir uns wieder mehr aufs Eltern-sein konzentrieren können.

Da Judith definitiv lebenszeitverkürzt erkrankt ist und wir uns immer wieder mit dem frühen Tod auseinandersetzen müssen, haben wir eine enge Bindung an das Kinderhospiz Bärenherz. Als die Pflegesituation einen Umzug erforderte, zogen wir sogar bewusst nach Leipzig, um näher am Bärenherz zu sein. Das Kinderhospiz unterstützt uns sehr praktisch im Alltag. Zum einen hat Judith hier einen Ort, an dem sie auch mal ohne Eltern sein kann. Immer wieder übernachtet sie dort. In diesen Zeiten können wir Dinge erledigen zu denen wir sonst nicht kommen würden, z.B. Wohnung streichen oder wegfahren und bei Menschen in der dritten Etage ohne Aufzug übernachten. Über das Kinderhospiz hat sie eine ehrenamtliche Begleiterin, die regelmäßig etwas mit ihr unternimmt.

Wir nutzen die Möglichkeit der Verhinderungspflege. Derzeit kommt unsere Freundin Julia einmal wöchentlich und assistiert Judith vor allem beim Konfirmandenunterricht, finanziert durch Leistungen der Pflegekasse. Sie springt ein wenn wir verhindert sind, übernimmt Pflegemaßnahmen und ist Judith eine treue Freundin.

Eine weitere riesige Entlastung ist die Nutzung „haushaltsnaher Dienstleistungen“ über das Entlastungs-Budget. Im Klartext heißt das für uns: einmal in der Woche kommt eine liebe Frau zu uns, die unsere Wohnung reinigt, darüber hinaus manchmal auch noch Wäsche mit versorgt und ab und zu auch den Balkon nett gestaltet.

Neben diesen Möglichkeiten gibt es auch Menschen, die ihren Job einfach richtig gut und gewissenhaft ausführen. Es ist so z.B. eine Erleichterung ein Sanitätshaus zu haben das sich gut kümmert und mitdenkt. Gut eingestellte und gewartete Hilfsmittel (Rollstuhl, Stehtrainer, Therapiestuhl, Lifter, Badeliege, Pflegebett,…) erleichtern den Alltag sehr.

Judiths Kinderärztin ist eine echte Perle und ich bin froh, dass wir sie gefunden haben. Sie hat die Lage erfasst und ist sehr zuverlässig ansprechbar. Das geht, weil sie uns ihre direkte Durchwahl gegeben hat, auf Emails zuverlässig antwortet und auch recht unkompliziert Hausbesuche ermöglicht. In früheren Zeiten hatte Judith auch schon Kinderärzte, bei denen das nicht so war. Die Konsequenz war für uns jemanden zu finden, der hier bedarfsgerecht betreuen kann.

Judith hat ziemlich viele monatliche Verbrauchsmaterialien: Katheter, Desinfektionsmittel, Tupfer, Sondenspritzen, Sondenzubehör,Inkontinenzmaterial, … Es gestaltete sich zunehmend nicht mehr umsetzbar, für jeden Artikel ein Rezept zu besorgen und diesen einzeln aus der Apotheke zu beziehen. Daher haben wir uns eine Fachfirma, einen sogenannten Homecare-Provider gesucht, der alles aus einer Hand beliefert. Die Außendienstmitarbeiterin kommt regelmäßig um zu besprechen was benötigt wird, kennt sich gut mit allen Produkten aus und besorgt sich hierfür gebündelt die Rezepte und dann werden die Sachen geliefert.

Die Apotheke ist auch ohne diese Aufgabe gut mit Judiths Bedarf ausgelastet. So sehr, dass wir einen persönlichen „Bezugs-Apotheker“ haben. Dieser ist unser Ansprechpartner wenn wir die Apotheke betreten, kennt Judiths Medikamentenplan und kümmert sich um die Organisation der Medikamente (was nicht heißt, dass wir bei den vielen anderen Mitarbeitenden unbekannt wären ;-)).
Über eine Apotheken-App übermittle ich ihm, welches von Judiths 17 Dauermedikamenten alle wird. Er fordert bei der Kinderärztin ein Rezept an, das ihm direkt in die Apotheke geschickt wird. Dann kann das Medikament bestellt werden und ich erhalte per App die Info, dass alles abgeholt oder geliefert werden kann. So wird mir eine ganze Menge Arbeit abgenommen (zum Kinderarzt fahren, zur Apotheke fahren).

Bei all diesen Menschen/Institutionen haben wir teilweise lange gesucht bis wir die für uns passenden Ansprechpartner gefunden haben.

Soweit zu einem kleinen Einblick in die Ressourcen im Umfeld. Nächste Woche kommt der letzte Teil dieser kleinen Serie, die persönlichen Ressourcen bzw. eine erleichternde Alltagsorganisation.

„Wie macht Ihr das bloß!?“ Ressourcen in persönlichen Umfeld

2) Ressourcen im persönlichen Umfeld

„Wie macht Ihr das bloß!?“ Letzte Woche ging es um die eigene Haltung, diese Woche stelle ich Euch die Ressourcen aus unserem persönlichen Umfeld vor.

Es gäbe viel zu meckern über vorhandene und nicht vorhandene Strukturen, keine Frage (meckern geht ja immer ;-)). Jedoch möchte ich, anschließend an den Beitrag der vergangenen Woche, in dem es um die eigene Haltung ging, auf das schauen, was da ist und wie ich es in unserer individuellen Situation nutzen kann. Es fängt im Kleinen an, in der Familie, im Freundeskreis, in der Nachbarschaft.
Schritt 1 ist tatsächlich sich erst mal zu überwinden, diese Hilfsangebote anzunehmen.

Ich denke da an meine Schwester, die, als Judith zum ersten Mal im Krankenhaus war, sich postwendend auf den Weg machte, 500 km durch Deutschland fuhr, um uns beizustehen.

Meine Mutter, die auch weit weg wohnt, aber wenn sie da ist, unaufdringlich mit anpackt.
Gut ist, wenn die Angebote konkret sind. Mit „Melde Dich, wenn ich etwas für Dich tun kann…“ ist mir nicht geholfen. Aber: Da war mal eine Freundin, die aufrichtig fragte wie es uns geht. Ich antwortete ziemlich ehrlich, dass wir gerade einen Durchhänger haben. Sie stellte die nächste Frage: „Wann passt es, dass ich Euch ein Mittagessen rumbringe?“ Meine Antwort war die Uhrzeit. Ich hätte auch sagen können: „gar nicht.“ Aber als sie mit dem Korb voller Essen vor der Tür stand wurde es mir ziemlich warm ums Herz :-).
Da gab es die Zeit der ketogenen Diät. Das bedeutete, jedes Essen grammgenau berechnen, spezielle Zutaten zu kaufen und das Essen penibel abgewogen vorzukochen. Ein Aufwand, der den von Eltern gesunder Kinder locker übersteigt. Und da gibt es die Freundin, die mit mir über zwei Jahre lang alle zwei Wochen einen Vormittag das Vorkochen durchführte. Wir hatten in dieser Zeit nebenbei viel Spaß und anregende Gespräche.
Da gibt es die Nachbarn, die uns die Straße entlangkommend von weitem sehen und schon mal die Tür aufstellen und die Rampe anlegen.
Es gibt die Familien-Freundinnen, die mit in den Urlaub kommen und mit denen wir uns die Pflege teilen so dass es für alle eine erholsame Zeit wird.

Wichtig ist bei all diesen Unterstützungsangeboten, dass sie am Bedarf orientiert sind und nicht übergriffig sind. In der Regel beobachteten diese Menschen vorher, was wir brauchen und fragten nach, ob es so in Ordnung ist.

Solltest Du diesen Artikel lesen und nicht selbst in einer Situation mit einem Kind mit Behinderung stehen aber jemanden kennen der sich vielleicht über Support freut: je praktischer und konkreter, desto besser. Wenn Ihr ein offenes Verhältnis habt, bekommt Ihr gut mit wo es „hakt“ und wo ihr ein Angebot machen könntet.

So, das war Teil zwei dieser kleinen Serie. Nächste Woche geht es um gesellschaftliche Ressourcen…

„Wie macht Ihr das bloß!?“ Einstellungen und eigene Haltung

Letzte Woche startete ich diese kleine Reihe unter der Überschrift „Wie macht Ihr das bloß!?“. In dem ersten inhaltlichen Beitrag wird es diese Woche um Einstellungen und die eigene Haltung gehen.

Mir persönlich geht vieles leichter von der Hand, wenn ich der Aufgabe gegenüber entsprechend eingestellt bin. Das Leben mit Judith sehe ich als „Aufgabe“, aber eben nicht als schwere, belastende Aufgabe, sondern als Aufgabe als Mutter, die ein Kind hat. Ich weiß noch, als ich in einer Runde mit Eltern saß die alle ein Kind mit mehrfachen Behinderungen haben. Es ging um das schwere Leben, die Last. Irgendwann sagte ich: „Nö“. Alle schauten mich an. „Meine Tochter ist genau so ok, so wie sie ist. Wir leben gerne mit ihr!“. Schweigen. Offene Münder. Unglaube.
Aber es ist so. Judith ist ein klasse Kind!
Unser Blick geht zum Kind und weg von der Behinderung. Sie ist zwar ein Teil ihres Lebens, aber eben auch nur ein Teil. Judith hat viele tolle Eigenschaften, z.B. ihre Nachsicht, Offenheit, Zugewandtheit, ihr weites Herz. Wir mögen ihre interessanten Geräusche, die nur sie kann. Sie darf gute Laune haben und schlechte. Sie darf von uns genervt sein oder uns anstrahlen. Einfach, weil sie unser Kind ist. Wir sehen nicht die Last, sondern die Möglichkeiten. Die Behinderung ist im Hintergrund, im Vordergrund steht sie als Mensch.

Daher ist für uns nicht im Fokus, eine vermeintliche Normalität anzustreben und dieser hinterher zu trauern sondern mit dem zu leben, was wir haben. Durch die eine andere Blickrichtung, durch eine veränderte Haltung kann vieles leichter von der Hand gehen. Wir wollen es uns bei allen Zusatz-Komplikations-Fallstricken möglichst unkompliziert machen und das Maximum an Lebensqualität rausholen. Daher leben wir mit großem Mut zur Lücke. Logopädie und Ergotherapie ist sicher auch ganz wichtig, entfällt aber, da Judith auch gerne etwas Freizeit hat. Wir könnten Spenden für eine Delfintherapie sammeln, jedes Jahr zur Reha fahren oder ein tägliches Förderprogramm durchziehen. Tun wir nicht. Wir wollen Alltag und ein möglichst entspanntes Leben für sie. Natürlich gibt es Dinge die unerlässlich sind. Da Judith ein großes Atemproblem hat und Atmen existenziell wichtig ist, hat sie Atemtherapie. Daran ist auch nichts zu rütteln. Aber da, wo es geht, machen wir eben Abstriche.
Wir schließen Kompromisse zugunsten einer höheren Lebensqualität.

Auch in anderen Bereichen hilft uns Pragmatismus: So ist unsere Devise, pflegerisch nur das zu machen was wirklich notwendig ist. Ein Beispiel: Judith findet Umziehen ziemlich nervig, für uns ist es aufgrund ihrer Größe auch zunehmend ein Kraftakt. Also sparen wir auch hier ganz pragmatisch Ressourcen: Am Wochenende ist der „Schlafanzugtag für alle“ legendär. Oder: Wenn das (bequeme) Oberteil vom Tag noch ok ist, bleibt es zur Nacht gleich an, einmal Umziehen gespart.
Ein weiteres Beispiel: Judith wird vier mal täglich katheterisiert. Das bedeutet konkret: Judith aus dem Rolli aufs Bett hinlegen, untenrum komplett ausziehen, katheterisieren, komplett wieder anziehen, zurück ins Sitzen transferieren. Zeitaufwand locker 20 Minuten. Auf einer Fahrradtour müssten wir sie mit unserer Kraft aus dem Anhänger heben, eine Bank finden die diskret im Abseits steht und dann unter erschwerten Voraussetzungen auf einer schmalen Bank katheterisieren. Klingt anstrengend? Ist anstrengend. Daher ist unsere pragmatische Lösung, ihr an solchen Tagen einen Dauerkatheter zu legen. Judith dankt uns, dass wir ihr diese umständliche Pflegeprozedur ersparen und wir sind froh, dass wir länger am Stück radeln können.

Für mich, für uns ist wichtig geworden, die eigenen Grenzen realistisch einzuschätzen. Wir haben vieles erlebt, was „aus der Kalten heraus“ viele Kraftreserven fordern kann. Daher füllen wir unsere Akkus auch prophylaktisch auf. Wir überlegen: Wie viel ist wirklich notwendig? So haben wir beschlossen, dass Sebastian Teilzeit arbeitet und ich ganz auf die Arbeit verzichte. Ein Modell, dass Vor- und Nachteile hat, für uns persönlich überwiegen die Vorteile. Bei allen finanziellen und sonstigen Nachteilen ist das für uns persönlich die Möglichkeit, Kraftreserven für forderndere Zeiten zu aktivieren.

Eine weitere Kraftreserve ist unser Glaube. Wir alle sind evangelisch und leben unseren Glauben auch im Alltag. Der Glaube ist für uns eine Stütze, dass hinter allem was passiert, ein Gott steht der uns kennt und sieht.

Soweit meine Gedanken zur eigenen Haltung die dazu beiträgt, dass ich für uns eine hohe Lebensqualität sehe. Wie gesagt- es ist unser Weg, den wir gefunden haben. Jede Familie hat eigene, vielleicht auch ganz andere Wege, zu leben. Gerne könnt Ihr mir schreiben, wenn Ihr weitere Strategien habt. Hier in den Kommentaren oder auf Twitter

Nächste Woche wird es dann um Ressourcen gehen die die Gesellschaft und unser Umfeld bereit hält…