Archiv für den Monat April 2023

Du weisst dass du ein behindertes Kind hast, wenn…, Teil 34

Hoppla-Moment, wenn…

…wenn man aufgrund der vielen Krankenhausaufenthalte des Kindes und der Erfordernis eines tagesaktuellen negativen Schnelltests jedes Testzentrum auf dem Weg zur Klinik kennt.

… wenn ein Mensch in einer Notfallsituation davon profitiert, dass meine Tochter mit all ihrem Notfall-Equipment in der Nähe ist.

… wenn Du staunend Pflegekräfte (egal ob zu Hause, im Hospiz oder in der Klinik) bewunderst, die effizient und strukturiert pflegen können.

(Ich renne auch nach 15 Jahren noch planlos durch die Gegend, vergess die Hälfte und brauch drei mal so lange 🤷‍♀️)

… wenn du in der Apotheke sagst:

„bei Ihnen im Kühlschrank liegt noch Botox. Das würde ich jetzt gerne mitnehmen“

Apothekerin: „Botox? Für sie oder ihre Tochter?“

(Natürlich für die Kontrakturen von Judith. Ich mag meine Falten…)

…wenn man mit Kind und Gepäck auf dem Klinikparkplatz steht, die Stamm-Reinigungskraft der Station vorbeikommt und fragt:

„Oh je…Kommen sie oder gehen sie?“

„wir kommen“

„🙄“

„🤷‍♀️“

(Echt familiäre Kinderklinik, wenn der Empfang schon auf dem Parkplatz beginnt 😅🙈)

…wenn die Ärztin sagt: „wir haben im Team hin und her diskutiert, ob wir der Judith einen ZVK legen (ein größerer intravenöser Zugang) oder ob wir es bei der Flexüle belassen. Am Ende haben wir uns gedacht, die Mama hat das beste Bauchgefühl, fragen wir die!“

… wenn du den Rasenmäher mit dem Auto zur Inspektion bringen möchtest und die praktische Rollirampe zum reinfahren nutzt…

Entspannungs-Ort gefunden

Judith kommuniziert ja non-verbal. Das bedeutet, sie zeigt uns über Laute oder ihr Verhalten was ihr wichtig ist. Dazu bedarf es auch Begleit-Personen, die sie gut beobachten. So ergab sich neulich zwischen zwei Pflegekräften bei der Übergabe folgender Dialog:

„Die Judith hatte heute zuerst schlechte Laune. Komischerweise änderte sich ihre Laune, als sie unter den Hängeschränken in ihrem Zimmer stand. Plötzlich machte sie gute-Laune-Geräusche.“

Andere Pflegekraft: „Interessant, das habe ich auch schon mal beobachtet. Dann war das kein Zufall… Vielleicht ist das ihr Wohlfühl-Ort?“

Bildbeschreibung: eine weisse Wand, in etwa 1 m 50 cm hängen mehrere weiße Hängeschränke

Und so probierten sie es weiter aus; Immer wenn Judith in ihrem Zimmer mit dem Therapiestuhl unter den Hängeschränken stand, besserte sich ihre Laune.

Bildbeschreibung: Jugendliche (Gesicht mit Smiley unkenntlich gemacht) sitzt in einem Therapiestuhl unter Hängeschränken

Nun, wir haben ja alle mehr oder weniger spezielle Wohlfühlorte und Judith kann anscheinend perfekt unter dem Hängeschrank chillen. Warum auch nicht.

Um den Ort noch etwas schöner zu machen hatte die Pflegekraft die Idee, Judiths Interesse für den Blick nach oben und Muster so richtig zu erfüllen: sie hängte ein Bild aus Judiths Muster-Kalender unter den Schrank. Und nun ist es ein Entspannungs-Ort, wie er perfekter nicht sein könnte. Dank zweier Menschen, die gut beobachtet haben und ihre Bedürfnisse ernst nehmen!

Bildbeschreibung: Perspektive des Schranks von unten; man blickt auf ein Poster mit symmetrisch angeordneten Ellipsen, jeweils zwei sind verschoben in unterschiedlichen Farben übereinander

P.S: unter #BlickNachOben poste ich auf Twitter immer mal aus Judiths Perspektive…

Übersicht: wer kommt?

Durch den fragilen Gesundheitszustand ist Judith auf die Betreuung von Pflegefachkräften angewiesen. Monat für Monat kommt ein Dienstplan, in dem steht, wer wann kommt. Wir übertragen die Dienste in einen Taschenkalender, so dass wir Eltern schnell nachschlagen können wer wann da ist. Für uns ist das wichtig zu wissen wer kommt, da die Pflegekräfte aus familiären Gründen teilweise verschiedene Arbeitszeiten haben. Auch Judith braucht in ihrem Leben Verlässlichkeit.

So kam es also nicht selten vor, dass wir mit der Pflegekraft grübelnd und spekulierend am Bett standen und überlegten, wer wohl als nächstes kommt. Eine für alle nicht glückliche Situation.

Bildbeschreibung: zwei Leisten übereinander. In jeder Leiste stecken einlaminierte Fotos bzw. ein Symbol „kein Pflegedienst“. Die obere Leiste ist mit „heute“ markiert, die untere mit „morgen“. Rechts hängt der jeweilige Wochentag an der Leiste

Die Lösung: eine Übersicht am Schrank gegenüber des Bettes. Die Leisten habe ich im Internet unter dem Stichwort „Bonleiste“/„Bonschiene“ entdeckt. Sie sind wohl eigentlich für die Gastronomie, um Kassenzettel einzuschieben. Die Leisten sind mit „heute“ und „morgen“ gekennzeichnet. Der Wochentag kann flexibel per Magnet verändert werden. Da Judith von unten hochschaut, habe ich sie an die schräge Leiste gemacht.

Bildbeschreibung: einlaminierter Wochentag von hinten. Zwei runde Magnete sind mit Klebeband unten festgeklebt

Jede Pflegekraft im Team hat ein Foto. Die Fotos sind einlaminiert, oben ist ein längerer Rand, der in der Schiebeleiste verschwindet. Manche Pflegekräfte wollten lieber ein Pictogramm. Dank Metacom konnten wir auf eine umfangreiche Sammlung zugreifen und die Bilder um individuelle Eigenschaften ergänzen.

Bildbeschreibung: zwei einlaminierte Bilder mit jeweils einer Person drauf mit charakteristischen Eigenschaften wie Frisur, übliche Oberteilfarbe oder Piercings

Weitere Schildchen lagern im Nachbarschrank in einer Dose.

Bildbeschreibung: eine flache grüne Brotdose, darin einlaminierte Schildchen mit Wochentagen und Symbolen

Nun weiß jede*r Bescheid, wer als nächstes kommt!

P.S.: auch wiederkehrende, zeitlich nicht festgelegte Pflegeabläufe lassen sich mit dem Metacom-System gut dokumentieren.