Judiths „ursprüngliches“ Syndrom war noch nicht erforscht. In den ersten Jahren lebten wir mit einer ellenlangen Buchstaben-Zahlen-Kombination.
Daher gab es auch im Gegensatz zu den eher bekannteren Syndromen wie z.B. Down-Syndrom, Trisomie 18 oder Turner- Syndrom nirgends eine Liste auf der steht, was mit diesem Syndrom üblicherweise einhergeht.
Der Genetiker konnte uns zwar sagen welche Chromosomenveränderung sie hat, aber nicht, was das dann konkret bedeutet.
Also: weder, welche körperlichen und geistigen Auswirkungen definitiv auf uns zukommen werden, noch Lebenserwartung, noch irgendwas. Das einzig Offensichtliche war die Tatsache, dass es irgendwelche Konsequenzen für die körperliche und geistige Entwicklung haben wird und bereits schon hat.
Ein paar Jahre und unzählige Arzt- und Krankenhaustermine später sind wir da etwas schlauer 😉
Ich versuche also mal, Judiths Syndrom kurz und verständlich zu beschreiben:
- Sie war kleiner als andere Kinder in ihrem Alter und wuchs parallel zur durchschnittlichen Wachstumskurve. Mitterweile hat sie gut aufgeholt und ist altersentsprechend groß.
Vom Gesicht her sieht Judith aber deutlich jünger aus. Auch die Hände und Füße sind verhältnismäßig klein und „Standard-Proportionen“ scheint sie auch nicht wirklich zu haben. Ein Beispiel als sie 12 war: 148 cm, Schuhgröße 31, Handschuhe für ca. 7 Jährige, ewig langer Oberkörper, alle Oberteile sind zu kurz. Dafür gedrungener Unterkörper. Windelgröße M, Kleidergröße XS-S. Mützen kaufen wir neuerdings nicht mehr in der Babyabteilung, Brillen dafür schon seit mehreren Jahren in der Erwachsenenabteilung. Ach so: und bei den Sensoren fürs Pulsoximeter verwendet sie noch die Kleinkind-Größe. Ein bunter Proportionen-Mix. - Das Syndrom macht noch ein paar äußerliche Besonderheiten, z.B.: kleiner Mund, hoher Gaumen, tiefer Haaransatz, eine Ohrwindung extra, spitz zulaufende Finger, usw. Für Aussenstehende mag das auf den ersten Blick ausserirdisch klingen, wobei Judith dann im echten Leben von den meisten Leuten einfach nur als „süß“ oder auch „hübsch“ bezeichnet wird („face like a doll“, ganz typisch auch bei anderen Kindern mit Trisomie xq28)
- Ihr Hauptproblem ist die Muskelhypotonie, also „schlappe Muskeln“. Ihr fehlt einfach die Kraft. So konnte Judith mit 7 Jahren sitzen, robben und stehen mit Unterstützung, nach Einsetzen der Pubertät, Epilepsie, Wachstum und Gewichtszunahme dreht sie sich gelegentlich alleine auf die Seite.
Die Hypotonie wirkt sich aber weiterhin auf die inneren Organe aus: - Lunge: ganz großes Thema. Judith atmet oft zu flach. Dadurch werden nicht immer alle Bereiche gut belüftet (Atelektasen) und sie hat sehr oft Lungeninfekte. Im Schlaf atmet sie auch nicht ausreichend (nächtliches Hypoventilationssyndrom), so dass sie manchmal Sauerstoffbedarf hat. Mit 14 Jahren bekam sie nach zahlreichen sehr schweren Lungenentzündungen ein Tracheostoma. Seitdem ist das Inhalieren ein Klacks und sie benötigt in aller Regel keine Atemunterstützung mehr. Auch beginnende respiratorische Infekte lassen sich leichter abfangen.
- Blase: diese kann Judith zwar willentlich entleeren, aber leider bleibt immer sog. Restharn zurück. Mit Einmalkatheterisieren (das übrigens überhaupt nicht schmerzhaft ist) kann man dieses Problem gut beherrschen.
- Ansonsten: „Sag mir ein Organ und ich sag Dir, was sie da hat“, wäre die Kurzfassung. So ziemlich an jedem Organ ist irgendwas, mal mehr, mal weniger dramatisch. Sie ist weitsichtig, hat ein Blutschwämmchen in der Leber, hatte einen mittlerweile behobenen Herzfehler (ASD 2), unklare Schwellungen und Rötungen an Zehen und Fingern, verengte Tränenkanäle und häufiger Bindehautentzündungen, und, und, und. Die Symptome variieren immer wieder und so bekam sie im Krankenhaus mal den sehr passenden Spitznamen „Wunderblume“. Mittlerweile haben wir für die meisten Probleme gute Strategien und sie gehören eben einfach zum Leben dazu.
- Judith ist extrem infektanfällig. Das führt sie schnell und leider auch oft ins Krankenhaus. Sie ist unheimlich zäh und hat schon sehr viel überstanden: mehrmalige Sepsis (wie heißt der Plural, gibt es den überhaupt!?), drei mal Lungenversagen, unzählige Lungenentzündungen. Daher sind wir bei kleinsten Infektanzeichen auch schnell mal nervös…
- Weiterhin hat Judith eine sog. geistige Behinderung. Das klingt vielleicht auf den ersten Blick schrecklich, furchtbar und nach ganz wenig Lebensqualität, ist es aber für uns gar nicht so sehr. Judith entwickelt sich wie jedes andere Kind weiter, nur eben viel langsamer. So beginnt bei ihr die Trotzphase zum Beispiel erst mit sieben und nicht schon im Kleinkindalter. Sie hat eine fast altersentsprechende Auffassungsgabe.
- Weiterhin ist da die fehlende Lautsprache, aber da weiß sie sich ja anders zu helfen. Mit Blicken, tiefem Seufzen und Körpersprache kann sie ihre Meinungen und Bedürfnisse durchaus kommunizieren.
Was sie alles sonst so kann und womit sie sich so beschäftigt, lest Ihr ja hier im Blog, von daher brauche ich an dieser Stelle jetzt nicht weiter darauf eingehen.
So und jetzt die Überraschung:
Nachdem wir jahrelang mit dieser ellenlangen Buchstaben- und Zahlenkombination lebten, lernten wir über Unique eine Familie in Arizona kennen, deren Tochter Judith sehr ähnelte. Der in diesem Zusammenhang aufgekommene Wunsch nach präziseren Aussagen (das Mädchen hatte einige weitere Diagnosen bei denen uns nicht klar war ob Judith diese auch hatte) brachte dann eine kleine Sensation ans Licht: Judith hat „nur“ eine Trisomie XQ 28, die Bruchstelle ist erst bei 28. Die ist wiederum gar nicht mehr so unerforscht. Schaut man sich jedoch diese Syndrombeschreibung an, passt allerdings vieles nicht so richtig zu ihr.
Lange Rede, kurzer Sinn: Sie ist ein Unikat. Einzigartig und wunderbar gemacht und genau richtig, wie sie ist, unsere Wunderblume 🙂